6. KAPITEL
Kaum hatte die Presse Ami Vergano, Anwältin und alleinerziehende Mutter, als Mutter des kleinen Jungen identifiziert, der zu dem niedergeschossenen Daniel Morelli gelaufen war, umkreisten die Hubschrauber der Fernsehsender ihr Haus, Reporter klopften Tag und Nacht an ihre Tür, und das Telefon klingelte unablässig. Ami versuchte den Journalisten zu erklären, dass sie nur Morellis Vermieterin war, aber die Reporter wollten immer wieder wissen, ob er ihr Liebhaber oder gar Ryans Vater war. Als es ihnen schließlich langweilig wurde und sie weiterzogen, war Ryan am Boden zerstört. Ami hatte versucht, ihn zu beschützen, aber er hatte gesehen, wie sein Freund niedergeschossen wurde und blutend am Boden lag.
Zwei Tage nach dem Vorfall beim Baseball führte Ami einen ungewöhnlich stillen Ryan in das Klassenzimmer der vierten Klasse. Sie ließ sich vom Direktor und Ryans Lehrer das Versprechen geben, dass sie weder Reportern noch Ryans Klassenkameraden, noch irgendjemandem sonst erlauben würden, mit ihm über die Vorkommnisse auf dem Spielfeld zu sprechen. Ami umarmte Ryan und fuhr zögernd in die Stadt. Ihr Büro lag in einem alten Backsteingebäude an der Front Avenue. Der gegenüberliegende Park erstreckte sich dicht am Ufer des Willamette River. Ami hatte allen Grund, niedergeschlagen zu sein, aber es war mild, und die Sonne versprach einen schönen Tag. In wenigen Stunden würden Rennboote an bunten Segelbooten vorbeirasen, und der Park würde sich mit Menschen füllen, die ihre Hunde spazieren führten, Frauen, die Kinderwagen schoben und Kindern, die Fangen spielten.
Im Erdgeschoß des Gebäudes von Amis Büro befand sich eine Irische Bar. Der Eingang zu den oberen Etagen lag neben dem der Bar und einem Reisebüro. Im zweiten Stock gegenüber dem Lift residierte eine Firma, die Websites erstellten. Auf der rechten Seite des Flurs ging es zu einem Architektenbüro. Die Bürosuite auf der anderen Seite teilte sich Ami mit drei Anwälten der Kanzlei und zwei freien Rechtsanwälten. Im Wartebereich an der Rezeption saßen eine Hispanierin mit einem Baby, ein sehr sorgfältig gekleideter Schwarzer und eine Blondine mit einer Pilotensonnenbrille. Ami hatte keine Termine, also nahm sie an, dass niemand dieser Leute zu ihr wollte. Als sie sich an der Rezeption ihre Nachrichten geben ließ, beugte sich die Empfangsdame vor.
»Die Frau mit der Sonnenbrille ist Ihretwegen hier«, flüsterte sie. »Aber sie hat keinen Termin.«
Ami überflog kurz ihre Nachrichten, um sich zu überzeugen, dass nichts Dringendes dabei war, und ging zu der Blondine. »Ich bin Ami Vergano. Sie wollten zu mir?«
Die Frau stand auf. Sie lächelte nicht und reichte ihr auch nicht die Hand. »Ich hoffe, dass Sie einen Moment Zeit haben. Wenn Sie gerade beschäftigt sind, kann ich auch gern warten.«
»Können Sie mir sagen, worum es geht?« fragte Ami argwöhnisch. Sollte diese Frau auch eine Journalistin sein, dann würde es gleich eine Katastrophe geben.
Die Frau warf einen Blick auf die anderen Wartenden.
»Darüber würde ich mit Ihnen gern unter vier Augen sprechen.«
Ami ging voraus zu ihrem Büro am Ende der Suite. Es war kaum geräumiger als eine größere Besenkammer mit einem Fenster, das auf den Parkplatz hinter der Bar hinausführte. An der einen Wand hingen Amis Diplome, die andere zierte das Gemälde einer Seelandschaft, das sie von einem Künstler als Honorar akzeptiert hatte, für den sie einen Vertrag mit einer Galerie aufgesetzt hatte. Die beiden Stühle waren für Klienten reserviert, eine Anrichte stand unter Amis Fenster, und ihr Schreibtisch war von Gesuchen, Memos, Briefen und juristischen Fachbüchern übersät. Ein Foto von Ami, Chad und Ryan stand auf der Anrichte, und ein anderes direkt neben ihrem Telefon zeigte Ryan.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Miss ... ?«
»Vanessa Kohler. Ich wohne in Washington und bin erst gestern Abend nach Portland geflogen.«
Ami runzelte die Stirn. »Sie sind doch nicht den ganzen Weg hierher nach Oregon gekommen, um mich wegen einer Rechtssache aufzusuchen, stimmt' s?«
»Eigentlich schon. Ihr Name wurde auf CNN erwähnt. Man sagte, Sie seien Anwältin. Außerdem soll Daniel Morelli bei Ihnen wohnen.«
Ami funkelte ihre Besucherin feindselig an. »Sind Sie eine Reporterin?«
»Mrs. Vergano, ich arbeite tatsächlich für ein Magazin, aber ich bin nicht wegen einer Geschichte hier.«
»Was für ein Magazin?«
Vanessa seufzte. »Ich bin beim Exposed angestellt, einem Magazin mit zweifelhaftem Ruf, aber ich versichere Ihnen, dass meine Reise nach Portland und unsere Unterhaltung nichts mit meinem Job zu tun haben. Ich bin aus eigenem Antrieb hier, nicht wegen einer Story. Ich kannte Dan aus der Highschool und habe ihn Mitte der achtziger Jahre wiedergesehen. Wir standen uns einmal sehr nahe. Ich möchte Sie als seinen Rechtsbeistand engagieren.«
»Miss Kohler, die Presse hat mir und meinem Sohn in den letzten Tagen bereits das Leben zur Hölle gemacht. Ich weiß nicht, ob ich einer Journalistin trauen kann, doch selbst wenn ich Ihnen glauben würde, könnte ich Ihnen nicht helfen. Ich bin keine Strafverteidigerin. Meine einzige Begegnung mit dem Strafrecht war ein Pflichtkurs, den ich im ersten Jahr meines Jurastudiums belegt habe. Ich bin nicht kompetent genug, um jemanden zu vertreten, der sich einer strafrechtlichen Anklage gegenübersieht. Und selbst wenn ich eine großartige Strafverteidigerin wäre, könnte ich Dan nicht vertreten. Man vertritt niemanden, den man persönlich kennt. Außerdem bin ich eine Zeugin. Ich habe gesehen, was passiert ist. Der Staatsanwalt könnte mich in den Zeugenstand rufen und mich zwingen, auszusagen, was ich beobachtete habe. Sie sehen also, dass ich unmöglich tun kann, was Sie von mir wollen.«
Vanessa beugte sich vor und sah sie eindringlich an. »Das alles interessiert mich nicht. Ich brauche jemanden, der mich in das Krankenhaus zu Dan bringt. Ich habe dort angerufen. Man hat mir gesagt, dass er bewacht wird. Sie lassen nur seinen Anwalt zu ihm. Sie könnten Dan eine Botschaft überbringen. Vielleicht können Sie mich ja sogar als ihre Gehilfin oder als Sachverständige hinein schmuggeln.«
Ami wurde wütend. »Das klingt wie ein Trick, um ein Interview von ihm zu bekommen.«
Vanessa verschränkte fest die Hände in ihrem Schoß.
»Dan ist mir wichtig, und ich möchte ihm helfen. Vermutlich bin ich die einzige, die ihm helfen kann. Es gibt gewisse Dinge, die nur ich weiß, ich und er. Er könnte dieses Wissen nutzen, um einen Deal vorzuschlagen.«
»Was sind das für Dinge?«
»Tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
Allmählich verlor Ami die Geduld. »Hören Sie, Miss Kohler, so funktioniert das nicht. Ich würde aus dem Anwaltsstand ausgeschlossen, wenn ich die Polizei anlügen würde, damit Sie Dan sehen können. Vielleicht würde man mich sogar verhaften. Suchen Sie sich einen anderen Anwalt!«
»Als Sie im Fernsehen über Dan geredet haben, klang das so, als liege Ihnen etwas an ihm.«
»Ich mag Dan, aber ich kenne ihn erst seit sehr kurzer Zeit.« »Er ist im Grunde ein guter Mensch, Mrs. Vergano, aber man hat seine Gefühle sehr stark verletzt. Er braucht Hilfe. Ich weiß, wie man ihm helfen kann, aber zuerst muss ich ihn sehen.«
»Tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen, Miss Kohler.«
Vanessa zog einen Scheck aus ihrer Tasche und legte ihn auf den Tisch. Er war auf fünfundzwanzigtausend Dollar ausgestellt. Ami starrte auf das Papier. Fünfundzwanzigtausend Dollar konnte sie sehr gut gebrauchen.
»Ich muss Dan sehen, bevor es zu spät ist«, fuhr Vanessa fort. Sie klang verzweifelt. »Sie haben keine Vorstellung, wie wichtig das ist. Wenn Ihnen auch nur das Geringste an ihm liegt, dann helfen Sie mir. Sein Leben ist in Gefahr.«
»Wer bedroht ihn denn?«
Vanessa schüttelte den Kopf. »Sie müssen mir in diesem Punkt vertrauen. Diese Leute wissen vielleicht schon, dass Dan hier ist. Wenn nicht, werden sie es bald herausfinden. Dann ist es zu spät.«
Vanessa Kohler bereitete Ami Unbehagen, aber das Geld ... Sie könnte damit einen Grundstock für Ryans Studium legen. Oder einen Teil ihrer Schulden zurückzahlen. Und wenn Morelli tatsächlich eine größere Gefahr drohte? Das war zwar schwer zu glauben, aber ebenso unglaublich war das, was auf dem Baseballfeld geschehen war. Einen Moment spielte Ami mit dem Gedanken, die fünfundzwanzigtausend Dollar zu nehmen.
»Sie erwarten von mir, meinen Beruf für einen Mann aufs Spiel zu setzen, den ich nicht einmal richtig kenne. Sie müssen mir schon mehr Informationen geben, wenn ich ein solches Risiko eingehen soll.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen kann. Ich dachte, Sie würden mir helfen, weil Sie ihn kennen.« »Der Mann, den ich zu kennen glaubte, war ein liebevoller Mensch. Es fällt mir schwer, das mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was ich auf dem Spielfeld gesehen habe.«
»Soweit ich weiß, hat er den Trainer Ihres Sohnes davor bewahrt, verprügelt zu werden.«
»Schon, aber es gibt Grenzen. Er hat Barney Lutz in den Hals gestochen und ihn fast umgebracht. Und was hat er mit dem Polizisten gemacht?«
»Der Polizist hat ihn von hinten angegriffen. Dan wusste nicht, wer er war.«
»Dan ist ein gewalttätiger, gefährlicher Mann, Miss Kohler, und mein Sohn war sehr viel mit ihm zusammen. Gott weiß, was er ihm hätte antun können!«
Vanessa schaute Ami scharf an. »Im Grunde Ihres Herzens wissen Sie, dass er Ihrem Jungen niemals etwas zuleide getan hätte. Sie wissen genau, dass er nicht so ist.«
»Sie haben selbst gesagt, dass Sie ihn das letzte Mal Mitte der achtziger Jahre gesehen haben. Menschen ändern sich. Der Mann, den ich vor zwei Tagen erlebt habe, ist ein Killer.«
Vanessa saß auf ihrer Stuhlkante und beugte sich vor wie ein Läufer, der auf den Startschuss wartet. Sie durchbohrte Ami mit einem derartig eindringlichen Blick, dass die sich fragte, ob ihre Besucherin nicht vielleicht ebenfalls gefährlich war.
»Falls Dan ein Killer ist, weiß ich, wer ihn dazu gemacht hat. Dieser Mann ist absolut rücksichtslos. Sobald er erfährt, dass Dan in Portland ist, wird er erst Ruhe geben, wenn Dan tot ist. Dan hat nur eine Chance, am Leben zu bleiben, wenn er einen Deal mit den Behörden macht. Ich kann Dan dazu bringen, das zu tun, aber dazu muss ich persönlich mit ihm reden.«
Ami versuchte, ihre Gefühle zu sortieren. Wenn Kohler nun die Wahrheit sagte? Morelli war ein Rätsel. Was Dan getan hatte, hatte Ami schockiert und aufgewühlt, denn der Daniel Morelli, der in ihrem Haus gelebt hatte und so freundlich zu ihrem Sohn gewesen war, ähnelte gar nicht dem Mann, der mit einer so brutalen Effizienz bei Ryans Spiel reagiert hatte. Sie mochte und respektierte den Künstler, der in ihrem Haus lebte, aber der Killer, der Barney Lutz beinahe getötet hätte, flößte ihr Angst ein. Welcher der beiden war der echte Morelli? Sie beschloss, das Risiko einzugehen und dem Mann zu helfen, den sie für ihren Freund gehalten hatte.
»Hören Sie zu, Miss Kohler! Ich werde versuchen, Dan zu besuchen. Ich überbringe ihm eine Nachricht von Ihnen. Trotzdem werde ich Ihre fünfundzwanzigtausend Dollar nicht annehmen, weil ich den Fall nicht übernehmen kann. Schreiben Sie mir einen Scheck über eintausendfünfhundert Dollar aus, als nicht zurückzahlbaren Vorschuss. Danach berechne ich Ihnen ein Stundenhonorar. Ich kann Ihnen auch dabei helfen, einen Strafverteidiger zu finden, falls Sie das wollen.«
Vanessa ließ vor Erleichterung die Schultern sinken und lächelte zum ersten Mal. »Danke. Ich gebe Ihnen fünftausend Dollar Vorschuss. Ich kann es mir leisten. Eine Bedingung habe ich allerdings noch. Niemand außer Dan darf erfahren, dass ich Sie engagiert habe. Verstehen Sie das? Niemand darf wissen, dass ich in Portland bin oder Sie engagiert habe.«
»Ich halte Sie aus der Angelegenheit heraus«, versprach Ami. Doch während Vanessa ihren ersten Scheck zerriss und einen neuen ausschrieb, dachte Ami darüber nach, was sie gerade zugesagt hatte. Was hatte sie sich da eingebrockt?